Prominente Talkrunde über die Perspektiven der Landwirtschaft in bewegten Zeiten
Recklinghausen <WLV> Nach zweijähriger Corona-bedingter Pause fand der diesjährige Kreisverbandstag mit rund 400 Landwirtinnen und Landwirten im Festzelt am Heimathof in Dorsten-Lembeck statt. Die neue Kreisverbandsvorsitzende Regina Böckenhoff begrüßte die Anwesenden und ließ das vergangene Jahr Revue passieren. Besonders die Folgen des Ukraine-Kriegs mit den explodierenden Energiekosten und die u.a. anstehende Verschärfung der Pflanzenschutzmittelanwendungsverordnung sorgen für eine geringe Planungssicherheit und bereiten der Landwirtschaft Sorgen.
Im Zuge einer Podiumsdiskussion wurde die Frage nach den „Perspektiven für die Landwirtschaft in bewegten Zeiten" gestellt. Es diskutierten
- Dr. Ophelia Nick, MdB (Bündnis 90/Die Grünen)
Parlamentarische Staatssekretärin beim Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Berlin
- Prof. Dr. Folkhard Isermeyer
Präsident des Johann Heinrich von Thünen-Instituts, Braunschweig
- Hubertus Beringmeier
Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands e.V. (WLV), Münster.
Moderiert wurde die Diskussion durch Dr. Ludger Schulze Pals, Geschäftsführer im Landwirtschaftsverlag in Münster und ehemaliger Chefredakteur von „top agrar".
Prof. Dr. Folkhard Isermeyer macht in seinem Statement deutlich, dass die Politik eine zuverlässige Planungssicherheit für die Landwirtschaft schaffen muss. „Die Grundsatzfrage ist immer noch offen: Will Deutschland seinen gesamten Nutztiersektor auf ein hohes Tierwohl-Niveau führen, oder soll Tierwohlfleisch eine Marktnische bleiben, wie es ja im Grunde jetzt schon der Fall ist?
Hohes Tierwohl im gesamten Sektor lässt sich nur mit einer staatlichen Tierwohlprämie erreichen. Dieses Herzstück des Borchert-Plans ist keine dirigistische Planwirtschaft, sondern steht im Einklang mit dem Politikrahmen der Europäischen Union. Wenn eine politische Partei diese Maßnahme prinzipiell ablehnt, dann sollte sie auch bitte ehrlich kommunizieren, dass ihr das Ziel flächendeckendes Tierwohl nicht so wichtig ist.
Der Ukrainekrieg und die Inflation haben die Rahmenbedingungen drastisch verändert. Insofern ist es verständlich, dass die Politik aktuell keine zusätzlichen Milliardenlasten für die Verbraucher beschließen möchte. Es wäre aber mit überschaubaren Finanzbeträgen möglich, den Einstieg in die Tierwohlprämie zu organisieren und damit jenen Landwirten Planungssicherheit zu geben, die jetzt in hohes Tierwohl investieren wollen.
Nutztierpolitik ist mehr als nur Tierwohlpolitik, und die anderen Ziele sind inzwischen ebenfalls sehr wichtig geworden: Weniger tierische Lebensmittel konsumieren, Tierbestände reduzieren, standortgerechte Nutztierhaltung. Damit unsere Landwirte mehr Planungssicherheit erhalten, sollte unser Land auch hierzu umsetzbare Strategien entwickeln, so wie es die Borchert-Kommission für das Tierwohl vorgemacht hat", so Prof. Dr. Folkhard Isermeyer.
Die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Ophelia Nick schildert die Herausforderungen, vor denen die Landwirtschaft insbesondere beim Umbau der Tierhaltung steht. Sie betonte ihr großes Verständnis für die Verunsicherung der Landwirtinnen und Landwirte und die Notwendigkeit, echte Zukunftsperspektiven durch klare Rahmenbedingungen zu schaffen.
"Die Landwirtschaft und insbesondere die Tierhaltung stehen vor enormen Herausforderungen: Klimawandel und Biodiversitätsverluste gefährden die planetaren Grenzen und unsere eigenen Existenz und müssen dringend gelöst werden - auch durch Anpassung unserer landwirtschaftlichen und tierischen Erzeugung. Dazu kommen sich verändernde Ernährungsgewohnheiten und gesellschaftliche Erwartungen an die Tierhaltung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die afrikanische Schweinepest führen darüber hinaus zu dramatischen Marktbelastungen. Ich kann vor diesem Hintergrund die große Verunsicherung der Branche verstehen. Wir wollen uns dem Strukturwandel in der Tierhaltung in Deutschland entgegenstellen. Dazu brauchen wir regionale Erzeugung und vielfältige Betriebe in Deutschland. Wir können es uns vor diesem Hintergrund nicht erlauben, Probleme gegeneinander auszuspielen und müssen echte multiple Lösungen finden. Das ist für die Praxis genauso wie für die Politik eine große Aufgabe. Wir wollen durch die Haltungskennzeichnung die Marktbedingungen für tiergerechte Haltung verbessern und Betriebe beim Umbau der Tierhaltung unterstützen. So wollen wir einen klaren Rahmen und Planbarkeit für TierhalterInnen schaffen und orientieren uns am Konsens der Borchert-Kommission, der Zukunftskommission Landwirtschaft, den Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung und unserer eigenen Ressortforschung. Dieser Konsens zwischen Tierhaltern, Gesellschaft, Wissenschaft und Ministerium sollte jetzt auch durch die Koalitionspartner mit allen Mitteln unterstützt werden."
WLV-Präsident Hubertus Beringmeier betont, dass die aktuelle Situation für die Landwirtschaft unzufriedenstellend ist. „Die Entscheidung der EU, die ASP-bedingten Sperren bis 14. Oktober aufrecht zu erhalten, dafür habe ich kein Verständnis. Weil die Politik versagt, steuern wir beim Tierschutz auf eine Vollkatastrophe zu. Bald bleibt uns keine andere Möglichkeit mehr als die Ferkel und Mastschweine not zu töten. Das kostet den Steuerzahler nicht nur Millionen von Euro, sondern auch das mediale Echo wird verheerend sein", befürchtet Beringmeier. Auch die Pläne der EU-Kommission zum Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, nach denen der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in der EU bis 2030 um 50 Prozent verringert werden soll und dabei für „sensible Gebiete" auch Totalverbote gefordert, stoßen auf Unverständnis. Hubertus Beringmeier erklärt dazu: „Die Pläne der EU-Kommission sind allein schon vor dem Hintergrund der angespannten weltweiten Versorgungslage bei Nahrungsmitteln moralisch mehr als fragwürdig. Nach sorgfältiger Prüfung der Vorschläge ist jetzt zu erkennen, dass die Brüsseler Eurokraten in sogenannten „sensiblen Gebieten" ein Totalverbot verhängen wollen. Darunter würden in Deutschland u.a. auch alle Landschaftsschutzgebiete fallen, sodass es kaum noch Flächen gäbe, auf denen wir wie bisher die dringend benötigten Nahrungs- und Futtermittel erzeugen könnten. Hiergegen werden wir mit aller Entschlossenheit vorgehen und unseren Protest auch nach Brüssel tragen."
Dr. Ludger Schulze Pals schafft es in der kurzweiligen Diskussion die Perspektiven der Landwirtschaft aus den verschiedenen Sichtweisen einzuordnen. Die angeregte Diskussion im Nachgang zeigt, wie bewegt die Landwirtschaft in den aktuellen Zeiten ist.
Regina Böckenhoff zeigte indes anhand einer Vielzahl an Beispielen, dass sich der landwirtschaftliche Berufsstand bereits seit längerer Zeit intensiv mit den verändernden Gegebenheiten und Verbraucherwünschen auseinandersetzt: „Wir Bauern sind auf dem Weg. Wir reflektieren die Ansprüche der Verbraucher – wir sind Initiatoren der Runde Tische für Artenschutz und maßgeblich an der Initiative Tierwohl beteiligt. Der Deutsche Bauernverband hat im Juni diesen Jahres das Projekt Zukunftsbauer initiiert. Gleichzeitig haben wir aber auch die Aufgabe, die Ernährungssicherheit vor Ort zu gewährleisten. Eine neue Abhängigkeit von anderen Erdteilen wäre fatal und ist kontraproduktiv zu allen Bestrebungen im Klima- und Artenschutz", so Böckenhoff.